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50 Jahre Tatort

In einem halben Jahrhundert Tatort-Geschichte spielt das Ruhrgebiet eine bedeutende Rolle. Von 1974 bis 1980 ermittelte Hauptkommissar Heinz Haferkamp in Essen. Der seriöse, rauchende und etwas biedere Polizist stand für eine Phase, in der das 1970 gestartete Tatort-Format schon wieder ermattete und sich eine gepflegte Langeweile breit machte. Seine Nachfolger, Horst Schimanski und Christian Thanner, haben ab 1981 ein komplett neues Kapitel aufgeschlagen. Noch heute knüpfen Tatort-Teams an dem an, was damals in Duisburg am Rhein das erste Mal umgesetzte wurde. Jetzt kommt der Ruhrort-Tatort aus dem westfälischen Dortmund, wo die horizontale Erzählweise – Geschichten werden über mehrere Folgen gestreckt – nicht nur eine unbedeutende Nebenhandlung betrifft. Dass der Jubiläums-Tatort „In der Familie“ im Ruhrgebiet stattfindet und Peter Faber und Martina Boenisch mit ihrem Team sowie den Münchener Ermittlern übernehmen dürfen, ist eine logische Entscheidung.

Kneipe in Ruhrort
In einer Kneipe in „Duisburg-Ruhrort“.

Am 29. November 1970, wurde der allererste Tatort gezeigt. Das war gleichzeitig ein neues Kapitel in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte. „Der Krimi im Zweiten war mit er Vergangenheit beschäftigt“, schreibt die Süddeutsche Zeitung (SZ). „Derrick-Darsteller Horst Tappert war bei der Waffen-SS gewesen, Drehbuchautor Herbert Reinecker war Propagandist der Nazis.“ Und „Der Kommissar‘ sei noch in trotzigem Schwarz-Weiß gedreht worden. „Der Tatort im Ersten war bunt, er war eher links oder sah wenigstens so aus. Kommissar Finke hätte mit seinen Rollkragenpullovern zum Cordsakko einen prächtigen Gemeinschaftskundelehrer abgeben“.
Kaum ein Rückblick auf das halbe Jahrhundert Tatort-Geschichte kommt mit einem Verweis auf Horst Schimanski aus, der ab 1981 den Fernsehkrimi revolutionierte. Holger Gertz erinnert sich in der SZ daran, dass die Folgen mit Götz George, der 1981 mit „Duisburg-Ruhrort“ seine Premiere hatte, immer auch „Hörfilme“ gewesen seien. „Nie mehr danach ‚Leader of the Pack‘ gehört, ohne daran zu denken, wie Schimanski zu dieser Musik die Eier roh ins Glas drückte und runterkippte Und nie mehr Tangerine Dream, ohne an „Das Mädchen auf der Treppe“ (1982) zu denken, an die Schauspielerin Anja Jaenicke als Katja, die mit Schimmi etwas aß im ‚Spezialitätenrestaurant Hawaii‘.“
Süddeutsche Zeitung: Mord zum Sonntag

Das Mädchen auf der Treppe
Schimanski, Thanner und Katja: „Das Mädchen auf der Treppe“.

Spiegel-online-Redakteur Peter Ahrens hat innerhalb von vier Jahren die Tatort-Folgen 1 bis 729 geguckt. Seine „Dienstleistung“ (man braucht die anderen 719 nicht schauen) ist eine Auflistung der „zehn besten Tatorte“, darunter drei Duisburger Krimis. Platz 10: „Der unsichtbare Gegner“. Platz 3: „Moltke“. Platz 1: „Duisburg-Ruhrort“. „Wenn man eine Tatort-Folge in einer Raumkapsel ins All schießen würde, dann sollte es diese sein“, so Ahrens. „Schimanski läuft durch ein rottes Ruhrgebiet und erfindet den deutschen Fernsehkrimi völlig neu. Scheiße, ist dieser Film gut.“
Spiegel: Und dann Schimanski! Scheiße ist das gut

Moltke
Eine der besten Tatort-Folgen: „Moltke“.

Die alten Kommissare seien patriarchale Figuren gewesen, die über den Dingen schwebten, blickt Hajo Gies auf die siebziger Jahre zurück. „Schimanski war genau das Gegenteil.“ Ihm sei eine zweite Figur, Thanner, zugeordnet worden, so dass eine Rivalität entstand. „Das war eine gänzliche neue Konstellation“, so Gies. „Wir haben nur aus einer einzigen Perspektive erzählt, aus der der Polizei.“ Deswegen gebe es keine Nebenhandlung, und der Mörder werde nur dadurch charakterisiert, was der Kommissar von ihn kennenlernt. Die Realität werde im Film nicht abgebildet, sondern es sei ein Duisburg in Anführungsstrichen gezeigt worden, stellt der Regisseur im Gespräch mit dem Deutschlandfunk klar. „Duisburg-Ruhrort“ sei sein bester Tatort , er sei ein Manifest. „In dem ist alles vorgezeichnet, was wir machen wollten.“
Deutschlandfunk: Schimanski-Regisseur Hajo Gies zu 50 Jahren ARD-Tatort

Mit den Schimanski-Krimis seien eine erfolgreiche neue Idee etabliert worden: „das gleichberechtigte Ermittler-Duo“, heißt es beim Deutschlandfunk (DLF). „,Schimi‘ und sein kongenialer Partner Thanner klärten mit der Attitüde eines alteingespielten Ehepaares komplizierte Fälle auf.“ Götz George stellte fest, dass sie einen Keil zwischen die Fernsehlandschaft getrieben hätten. „Und wir wurden ja auch dementsprechend behandelt.“
Deutschlandfunk: Spiegel bundesrepublikanischer Wirklichkeit

„Wie Schimanski sich die Hand, die gerade noch die Pfanne hielt, an seinem Shirt abwischt, ist Poesie“, meint die Welt. „Keine Pfanne, zwei Eier, roh, nicht gerührt oder geschüttelt, aus dem Glas. Wie sauber das ist, weiß man nicht.“
Die Welt: Die zehn besten Tatorte unseres Lebens

In die wachsende Langeweile seit 1981 „eine Naturgewalt namens Schimanski“ eingebrochen, schreibt Jochen Vogt im WAZ-Feuilleton. „Begeisterung und Empörung des Publikums halten sich die Waage – aber die führenden Tatort-Forscher sprechen ernsthaft vom Schimanski-Jahrzehnt! Nur die Duisburger haben die einmalige Chance verpasst, ihrer Universität einen ausdrucksstarken Namen zu geben!“
WAZ: 50 Jahre Tatort

„Warum sollte man eine Tür öffnen, wenn man sie auch eintreten kann?“, fragt die WAZ. „Polternd, fluchend, schwitzend entert Horst Schimanski den Tatort und löst eine Fernsehkrimi-Revolution aus. Schimanski, der auf fahrende Autos springt oder auch mal nackt im Mittelkreis des Wedaustadions aus seiner Ohnmacht erwacht, würde bald schon größer sein als die ganze Tatort-Reihe – davon ist zum Auftakt allerdings nicht viel zu spüren. Im Gegenteil: Duisburg empört sich. Das Ruhrgebiet will sich gerade neu erfinden, der Welt verkünden, dass es nicht nur aus rauchenden Schloten besteht, und dann diese Werbe-Desaster“, notiert Frank Preuß. Dabei seien die Schimanski-Folgen viel mehr als ordentlich gemachtes Unterhaltungsfernsehen. „In einer Zeit, in der die soziale Spaltung gerade im Ruhrgebiet immer greifbarer wird, ist Schimanski der Gerechtigkeitssuchende, der den Großen zeigt, dass der kleine Mann nicht alles mit sich machen lässt. Die gesellschaftspolitische Relevanz wird erst später thematisiert, nachdem man sich an den oberflächlichen Reizpunkten abgearbeitet hat.“
WAZ: Als Horst Schimanski den Tatort aufmischte

„Immer wieder in den vergangenen 50 Jahren ist Musik aus dem Tatort in die Charts gekommen. Meistens dann, wenn Schimanski für Recht und Ordnung sorgte“, stellt das WAZ-Feuilleton fest. „Midnight Lady“ von Chris Norman (eine Fließbandproduktion von Dieter Bohlen), Marius Müller-Westernhagens Theken-Hymne „Hier in der Kneipe, fühl ich mich frei“, „White Eagle“ von Tangerine Dream (ein für den Zeitgeschmack zurechtgetrimmter „Betriebsunfall“) und Klaus Lage mit „Faust auf Faust“: „Wie damals hinter’m Kohlenschacht, der heut’ wie’n off’nes Grab stillliegt. Für wen hast du in dieser Nacht als Held die Fresse vollgekriegt?“ „Mit solchen Zeilen kann man damals etwas anfangen im Revier“, schreibt die WAZ.
WAZ: Hitfabrik Schimanski

Bei seinem ersten Tatort, der Schimanski-Folge „Schwarzes Wochenende“, musste Star-Regisseur Dominik Graf noch die „dramaturgische Regel“ beachten, dass es keine Szene ohne den Kommissar geben durfte. Damals hatte er 30 Drehtage. „Heute fragt man sich, was man da eigentlich 30 Tage lang gemacht hat“, sagte Graf der Berliner Morgenpost. Bei „In der Familie“, seinem Tatort zum 50. Jubiläum, seien es 24 Drehtage geworden.
Berliner Morgenpost: Sechs Kommissare in einem Raum 

Götz George habe anfangs die Idee gehabt, dass Schimanski schwul und unter Klaustrophobie leiden sollte, so Drehbuchautor Felix Huby gegenüber dem RND. Schimanski habe viele Miterfinder, zu denen er sich auch zählt. Der Vater von Schimanski sei er aber nicht, räumt er ein. „Tatsache ist, dass damals die Verantwortlichen von der Bavaria – darunter der Regisseur Hajo Gies und der Produzent Bernd Schwamm – diese Figur entwickeln wollten. Also haben sie drei Autoren eingeladen. Das waren Horst Vocks und Thomas Wittenburg, die zusammengearbeitet haben, und ich. Wir haben dann zusammengesessen und über die Figur Schimanski geredet, Götz George kam auch dazu.“
RND: Warum gefällt Ihnen der Tatort nicht mehr?

Jürgen Werner hat Drehbücher für die Schimanski-Filme geschrieben und zuletzt die meisten Bücher für die Dortmunder Tatort-Folgen. „Was den großen Götz George betrifft, waren wir darum bemüht, alles zu sein, nur kein Schimanski 2.0“, sagte Werner der WAZ. „Am Anfang bloß nicht zu viel Ruhrpott, zu viel von dem, wofür Schimanski stand. Wir sind an einigen Stellen übers Ziel hinausgeschossen und waren in den Fällen vielleicht nicht mutig genug.“
WAZ: Immer was los bei den Dortmundern  

„Interessante Momente immer im Mikrokosmos Tatort: wenn Kommissare unterschiedlicher Teams sich endlich mal begegnen“, schreibt die Süddeutsche Zeitung über den aus München und Dortmund („Clásico“) kommenden Jubiläums-Tatort. „Als Zuschauer kennt man sie so lange, oder glaubt sie zu kennen. Man beobachtet also gern, wie sie sich zueinander verhalten. In einer alten Folge band sich Schimanski (Götz George) vor einem Werbeplakat seines Vorgängers Haferkamp (Hansjörg Felmy) mal die Schuhe, was nicht böse gemeint war, von Felmy aber als respektlos wahrgenommen wurde. Es ist also schwierig manchmal.“
Süddeutsche Zeitung: Clásico

DGB
Auch der ➜ Deutsche Gewerkschaftsbund gratuliert zum Jubiläum.

Harald Schrapers · 2020   

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